Interview mit Dr. Nikolai Ardey
Beim ITS World Congress stellt der Volkswagen Konzern neue Lösungen für effiziente, nachhaltige und sichere Mobilität vor. Das weltgrößte Branchenevent für intelligente Transportsysteme findet vom 11. bis 15. Oktober 2021 in Hamburg statt. Dr. Nikolai Ardey, Leiter Volkswagen Group Innovation, erklärt, wohin die Reise geht.
Vor dem ITS World Congress haben Sie bei einer internen Messe Antworten auf die Zukunftsfragen der Mobilität präsentiert. Welche Antworten sind das?
Der Mobilitätssektor und insbesondere das Automobil durchlaufen aktuell die radikalste Transformation ihres Daseins. Schritt für Schritt wird das neue Ideal der CO₂-neutralen, selbstfahrenden Mobilität Realität – in Megacitys genauso wie im ländlichen Raum. Damit ergeben sich ganz neue Freiräume für uns als Menschen. Wir können die Zeit im Auto zukünftig noch vielfältiger nutzen für soziale Kontakte, Entertainment, Entspannung. So wird das Auto in gewisser Weise zur Zeitmaschine. Wir binden dann Mobilität auf eine ganz andere Art und Weise in den Alltag ein – mit Vorteilen für die Gesellschaft und für jeden Einzelnen. Uns steht das „goldene Zeitalter der Mobilität“ bevor.
Womit können wir im goldenen Zeitalter der Mobilität rechnen und wann?
Wir arbeiten auf einen Fixstern mit idealisierter Weltvorstellung hin: 2050 rechnen wir mit einer CO₂-neutralen Welt, smarter Energieversorgung, einer vollvernetzten Mobilität und der flächendeckenden Verfügbarkeit von autonomem Fahren. Wir werden uns vielfältig fortbewegen. Es wird ein Mix sein aus Micromobility, Robotaxis, öffentlichem Nahverkehr und individueller Mobilität. Die Mobilitätsagenten werden weitestgehend autonom und intelligent gesteuert. In Zukunft wird es keine Ampelkreuzungen mehr brauchen. Autos parken sich selbst und in vertikaler Anordnung mit geringerem Flächenverbrauch. Städte werden leiser, Parkraum wird wieder zu Grünflächen und wir gewinnen Lebensqualität zurück. Das ist ein Visionsgebilde, von dem wir die Zwischenschritte in den Jahren 2040 und 2030 ableiten.
Wie weit vor der Welle surfen Sie?
Wir erforschen und entwickeln heute nachhaltige, vernetzte, sichere und maßgeschneiderte Mobilitätslösungen für die kommenden Generationen. Unsere Arbeit setzt etwa acht Jahre vor der möglichen Markteinführung einer neuen Technologie, eines Produkts oder eines neuen Services an. Innovationen, die 2026, 2027 in Serie gehen könnten, werden gerade an die Vorentwicklung übergeben. Damit setzen wir bei unserer Konzernstrategie „NEW AUTO“ an, mit der sich Volkswagen bis 2030 vom Fahrzeughersteller zu einem weltweit führenden, softwaregetriebenen Mobilitätsanbieter transformiert. Aber wir denken auch noch einen Schritt weiter: Was erwartet uns in den 2030er- oder 40er-Jahren? Grundlagenforschung ist dazu essenziell.
Europa hatte schon immer eine starke Grundlagenforschung. Den Transfer in die Industrialisierung von Technologien schaffen die USA und China aber häufig besser. Wie bringen Sie Ihre Projekte zur Serienreife?
Das stimmt. Der Grund ist häufig, dass andere Länder beim Einsatz des Wagniskapitals zu Zwecken der Skalierung deutlich schneller und mutiger sind. Das sieht man gut bei Start-ups. In den ersten Finanzierungsserien sind viele Deutsche dabei. Das nimmt allerdings rapide ab, sobald die Investsummen größer werden. Das ist ein Problem. Da braucht es eine andere Wagniskultur und eine konzertiertere Förderpolitik. Beim Thema Quantencomputing haben wir etwa eine exzellente Grundlagenforschung. Jetzt geht es darum, die richtigen Weichen zu stellen, um auch bei der Industrialisierung das Feld anzuführen. Dieses Phänomen betrifft Volkswagen jedoch weniger. Es ist unser tägliches Business, unsere Projekte skalierungsreif zu machen und an die Vorentwicklung zu übergeben. Skalierung ist unsere Stärke.
Die Automobilbranche durchläuft aktuell ihren größten Transformationsprozess hin zu einem vollelektrischen, vollvernetzten Auto. Wie haben sich dadurch auch die Anforderungen an die Forschung verändert? Was sind die Herausforderungen?
Manche sagen, Volkswagen müsse innovativer werden. Fakt ist: Wir arbeiten seit 50 Jahren sehr erfolgreich an Innovationen und neuen Technologien. Früher lag der Fokus auf der sogenannten „closed innovation“. Das heißt ganz einfach, dass wir sozusagen im geheimen Keller geforscht haben. Pioniergeist und Transformationsbereitschaft waren aber schon immer ein wesentlicher Teil unserer DNA. 2019 haben wir sogar uns selbst transformiert. Da wurde aus der Konzernforschung die Group Innovation. Und wir werden uns auch in Zukunft immer wieder neu erfinden müssen. Denn der Gradient der Entwicklung und der Transformation ist enorm steil. Gleichzeitig gehen wir weg von den klassischen Automobilthemen wie der Antriebsweiterentwicklung oder Getriebeentwicklung und stattdessen hin zu Energiesystemen, Digitalisierung und ganzheitlichen Mobilitätslösungen. Um bei diesen Themen das nötige Tempo auf die Straße zu bringen, setzen wir vermehrt auf Co-Innovation in agilen und starken Netzwerken – quasi die kollektive Kreativität.
„Heute zeigen wir, was wir haben, und wir zeigen es gerne. Durch offene und Co-Innovation entstehen Bereicherung, Vernetzung und Schnelligkeit.“
Co-Innovation ist ein gutes Stichwort. Sie forschen nicht nur in Wolfsburg, sondern haben ein globales Innovationsnetzwerk, das auch eng mit Start-ups zusammenarbeitet. Welchen Stellenwert haben Internationalität und Vielfalt für Innovationen?
Wir haben Forschungszentren und Inkubatoren in den unterschiedlichesten Ecken der Welt wie China, USA und Israel. So stellen wir sicher, dass wir am Puls der Innovationshotspots sind. Tel Aviv hat eine starke Start-up-Kultur. Das Silicon Valley ist weiterhin eine Topadresse. Wir holen uns gezielt Leute ins Team, die vor Ort leben, Teil der wissenschaftlichen Community sind und die Kultur verstehen. Wir haben uns so ein starkes Netzwerk aufgebaut und sind nah dran, wenn Start-ups entstehen, es interessante Forschungsergebnisse von Universitäten gibt oder sich ein neues Ökosystem in der Gesellschaft formt. Dann setzen wir uns mit diesen Ideengebern an einen Tisch und entscheiden, wie wir unterstützen oder einsteigen. Von der gemeinsamen Entwicklung bis zum Investment ist alles denkbar. So entstehen internationale Forschungsprojekte, aus denen Produkte für unsere Kunden auf der ganzen Welt werden. Vielfalt ist für jedes Team ein Erfolgsgarant. Und für eine Innovationseinheit ist Vielfalt sogar um Potenzen wichtiger, weil sie die Innovationskraft befeuert. Sie ist für uns also nicht nur Erfolgsfaktor, sondern auch ein Lebenselixier.
Die Group Innovation ist neben Inkubator und Scout auch Vordenker für den Volkswagen Konzern. Was kann man sich darunter vorstellen?
Als Vordenker betreiben wir Zukunftsforschung. Mithilfe von künstlicher Intelligenz analysieren wir Finanzströme, Patente, sämtliche Zeitungsartikel und wissenschaftliche Literatur. Darin identifizieren wir schwache Signale und deren Vernetzung. Wenn diese Signale in eine Richtung weisen, dann deutet sich ein Trend ab. Eine zentrale Rolle spielen dabei auch Wertestudien. Daraus entwickeln wir Lösungen, wie wir das Unternehmen robust für diese Veränderungen aufstellen – und wie wir diesen Trend in der Unternehmensstrategie und den Produktportfolios der Marken abbilden. Ein gutes Beispiel ist unsere Kooperation mit dem US-Start-up QuantumScape. Seit 2018 forschen wir zusammen an der Großserienfertigung der Feststoffbatterie. Wenn man so will: einer „Superbatterie“, die größere Reichweiten und kürzere Ladedauer ermöglicht. Mittlerweile haben wir dies an das CoE Battery übergeben, wo im nächsten Schritt zusammen mit QuantumScape eine Serien-Pilotanlage für die Feststoffzellfertigung aufgebaut wird.
Können Sie uns einen Einblick in aktuelle Ideen geben?
Wir arbeiten auf ein vollständig integriertes Mobilitätssystem hin, bei dem alles wie am Schnürchen läuft. Dieses Zielbild zeichnet sich auch in unseren Innovationen und Forschungsprojekten ab: Sie sind miteinander vernetzt und bedingen sich zum Teil gegenseitig. Ein Kernthema sind die Errungenschaften rund um die Langstreckenmobilität und das autonome Fahren. Wir entwickeln Konzepte, die zeigen, wie unsere Kundinnen und Kunden zukünftig ihre Zeit im selbstfahrenden Auto verbringen können. Zudem arbeiten wir auf einen Paradigmenwechsel beim Thema autonomes Fahren hin: Wenn wir die aufwendigen Berechnungen von technischen Parametern aus dem Auto in die Cloud heben, können wir auf bestimmte Hardware-Komponenten im Auto verzichten. Das senkt die Kosten für das autonome Fahren drastisch und macht es schon sehr bald in der Breite erschwinglich. Eine weitere treibende Kraft unserer Projekte ist die Dekarbonisierung: Wir haben einen Zwölf-Zylinder-Prüfstand umgerüstet, mit dem wir durch passive Mineralstoffaufnahme CO₂ aus der Luft entnehmen können. Das „Direct Air Capture“ dreht die Uhr der globalen Erderwärmung gewissermaßen zurück. Außerdem haben wir kürzlich einen E-Traktor für den Einsatz in Afrika gezeigt.
Ein E-Traktor für Afrika? Was hat das mit Volkswagen zu tun?
In Afrika entstehen durch Landflucht schwierige soziale Verhältnisse in den Städten. Damit einher geht eine Verschlechterung der Ernährungssituation. Durch das Ablösen manueller Arbeit und die Einführung von Traktoren ließe sich dieses Problem bekämpfen. Interessant ist für uns dabei das Überspringen bisheriger technologischer Entwicklungen. Wir nutzen direkt Digitalisierung und Elektrifizierung und bauen zusammen mit unseren Partnern GIZ und University of Rwanda einen Hub für nachhaltiges Landwirtschaften. Es entsteht gerade ein ganzes Ökosystem mit Solar-Infrastruktur für E-Traktoren, die man über eine App buchen kann, und vieles mehr in Ruanda. Mit unseren Konzepten lässt sich die Ernte verfünffachen, die Einkommenssituation der Bauern so verbessern und damit – hoffentlich – die Landflucht aufhalten. Das ist der springende Punkt von Innovationen: einen Mehrwert für die Gesellschaft zu schaffen.
