Interview mit Prof. Irene Bertschek
Prof. Irene Bertschek ist Digitalisierungs-Expertin am ZEW – Leibniz-Zentrum für Europäische Wirtschaftsforschung in Mannheim und Beraterin der Bundesregierung in Innovationsfragen. Im Interview erklärt sie, wie Künstliche Intelligenz unsere Mobilität lenken kann und welche Digital-Lösungen der Corona-Zeit von Dauer sind.
Die Digitalisierung verändert die Wirtschaft bereits immens – nun zwingt die Corona-Pandemie viele Unternehmen zu noch mehr Tempo. Wie ist die Ausgangslage?
Das ist von Branche zu Branche extrem unterschiedlich. IT- und Finanzdienstleister haben viele Abläufe längst digitalisiert. Die Automobilindustrie befindet sich ebenfalls im Wandel, kann aber auf hoch automatisierten Arbeitsprozessen aufbauen. Das ist gerade jetzt in der Corona-Krise von Vorteil, da es erleichtert, die physische Distanz zu wahren, wenn Menschen nicht nur mit Menschen, sondern vor allem mit Robotern kooperieren. Andere Branchen stehen am Anfang. Nehmen wir die Bauwirtschaft: In vielen Unternehmen beschränkt sich die Digitalisierung auf die elektronische Rechnungsstellung, obwohl es ausgefeilte Software-Lösungen für das Planen und Bewirtschaften von Gebäuden gibt.
Wie kommt das?
Die meisten Baufirmen waren in den vergangenen Jahren extrem gut ausgelastet – dadurch blieb kaum Zeit, sich mit Zukunftsfragen zu beschäftigen. Generell sind besonders kleine und mittlere Unternehmen im Rückstand. Sie haben oft noch nicht verstanden, wie wichtig und vielfältig die Digitalisierung ist. Manch ein Schreinermeister denkt: Ich kann meine Möbel doch nicht digital bauen. Natürlich nicht – aber er könnte sie digital präsentieren und damit im Markt sichtbar sein! Digitalisierung betrifft jeden. Die meisten großen Unternehmen haben das verstanden.
Oft heißt es, amerikanische und chinesische Konzerne hätten einen uneinholbaren Vorsprung. Wie ist Ihre Einschätzung?
In der Plattform-Ökonomie sind US-Unternehmen wie Amazon, Google oder Facebook tatsächlich enteilt. Das gilt auch für die chinesischen Pendants Alibaba, Tencent und Baidu. Da ist der Zug für Europa abgefahren. Bei Industrie 4.0 und Künstlicher Intelligenz liegt Europa dagegen gut im Rennen. Das zeigen zum Beispiel die Patentanmeldungen. Aus dieser Position müssen die Unternehmen etwas machen.
Wie kann das gelingen – etwa in der Mobilität?
Ein gutes Beispiel ist die Steuerung von Verkehrsströmen mittels Künstlicher Intelligenz. KI kann große Datenmengen aus unterschiedlichen Quellen auswerten und optimale Routen errechnen. Die Informationen können zum Beispiel Fahrzeuge betreffen, geografische Gegebenheiten oder das Wetter. So lässt sich der Verkehrsfluss besser organisieren und Stau vermeiden.
Wie stellen Sie sich den digital gelenkten Verkehr der Zukunft vor?
Mein Traum ist die autofreie Innenstadt bei perfekter Vernetzung aller Verkehrsmittel. Herzstück könnte eine digitale Plattform sein, die die Menschen jederzeit und nutzerfreundlich mit allen wichtigen und aktuellen Informationen versorgt: Wann fährt der nächste elektronisch betriebene Bus ins Zentrum? Wo kann ich mein E-Bike aufladen, während ich etwas unternehme? Eine intelligente Vernetzung mit kurzen Taktzeiten macht die Städte lebenswerter und trägt zum Klimaschutz bei.
Was ändert sich noch in unserer Mobilität?
Die Digitalisierung macht viele Wege vermeidbar – etwa wenn wir im Homeoffice arbeiten, von beliebigen Orten aus miteinander kommunizieren oder online einkaufen. Auch Tele-Sprechstunden beim Arzt sind in der Corona-Krise beliebter geworden. Langfristig können solch digitale Lösungen dazu beitragen, ländliche Gebiete als Lebens- und Wirtschaftsraum zu erhalten.
Foto: ZEW
All das funktioniert nur mit leistungsfähiger Infrastruktur. Wie ist die Lage?
Innerhalb Europas liegen Länder wie Malta, Dänemark und die Niederlande vorn. Dort verfügen mehr als 90 Prozent der Haushalte über einen ultraschnellen Internetanschluss mit mindestens 100 Mbit/s. Deutschland dagegen versorgt nur 75 Prozent der Haushalte mit ultraschnellem Internet und landet unter 28 Staaten auf Platz 16. Viele Unternehmen bemängeln diese Schwächen, denn ohne eine gute digitale Infrastruktur können sie die Möglichkeiten von Cloud Computing, Big Data, Industrie 4.0 oder KI kaum nutzen. Neben einem flächendeckenden Glasfasernetz brauchen wir ein leistungsfähiges mobiles Netz – beispielsweise für das autonome Fahren.
Wie nachhaltig ist der Digitalisierungs-Schub, der durch die Beschränkungen der Corona-Pandemie entstanden ist?
Manches wird sich nach der akuten Krise zurückdrehen, denn der Mensch als soziales Wesen braucht nun einmal den physischen Kontakt zu anderen. Wo digitale Lösungen aber Vorteile bringen, da werden sie auch weiterhin genutzt. Ich gehe zum Beispiel davon aus, dass Homeoffice, Videokonferenzen, der Online-Handel und die Tele-Sprechstunde dauerhaft eine größere Rolle spielen werden als vor der Pandemie.
Zur Person:
Prof. Irene Bertschek ist Leiterin des Forschungsbereichs „Digitale Ökonomie“ am ZEW – Leibniz-Zentrum für Europäische Wirtschaftsforschung in Mannheim. Zudem lehrt sie an der Justus-Liebig-Universität Gießen. Seit Mai 2019 ist sie Mitglied der Expertenkommission Forschung und Innovation der Bundesregierung.